Gespräch mit Melanie Waelde, Regisseurin des Encounter-Beitrags NACKTE TIERE
NACKTE TIERE – was für ein Titel! Sind Tiere nicht immer nackt, oder eigentlich nie? Melanie Waelde, 27 Jahre alt, Potsdamerin, Regisseurin, Drehbuchautorin und in diesem Jahr Teilnehmerin an der neuen Berlinale-Wettbewerbsreihe „Encounters“ hat diesen widersprüchlichen Filmtitel ganz bewusst gewählt. Die seltsamen Assoziationen, die sich dabei ergeben, heißt sie willkommen. Überhaupt mag sie es, wenn Filme nicht eindeutig sind, wenn die Zuschauer manches eben so oder so interpretieren können. Ihr Film vermeidet Eindeutigkeiten, stellt anscheinend so klare Grenzen in Frage. Was also bedeutet „Nackte Tiere“? Waelde spielt die Frage zurück an die Journalistin. „Verletzlichkeit und Ungezähmtheit“, kommen ihr in den Sinn. Scheint zu passen. Waelde lächelt.
„Ich wollte einen Film drehen, den ich als Jugendliche selbst gerne gesehen hätte“, beschreibt sie ihre Initialzündung für NACKTE TIERE. Ein Film über junge Menschen, fernab von allzu vertrauten Rollenklischees, von erwartbaren Paarbildungen, von all dem, was für diese Zielgruppe immer wieder neu aufgekocht wird. Und das ist ihr gelungen. Der Spielfilm begleitet eine Handvoll junger Leute, kurz vor dem Schulabschluss, irgendwo im ländlichen Raum, wohl in Brandenburg, die sich lieben und gegenseitig nerven, Nähe zulassen und sich wieder dann auch wieder voneinander lösen. Dabei ist die Kamera ganz nah bei ihnen, und hält doch respektvolle Distanz. Es geht hier nicht um Bloßstellung, es geht darum, diesen jungen Menschen, verletzlich und verletzend wie sind, nachzuspüren, ihnen nahe zu kommen, zu verstehen, was sie antreibt.
Die Hauptfigur, Katja, wird gespielt von Marie Tragousti, einer echten Entdeckung: Ganz natürlich bewegt sie sich vor der Kamera, verkörpert eine Selbstverständlichkeit des Seins, die einen stark beeindruckt. Und die für Melanie Waelde stark mit Brandenburg assoziiert ist. Dass die Leute hier eben sind, wie sie sind. Katja ist eine starke Figur, pragmatisch, entschieden, auch wenn ihre Verletzlichkeit immer wieder durchscheint. Wiederholt zeigt der Film sie beim Jiu Jitsu-Training, schwitzend, keuchend, völlig erschöpft – und ganz bei sich. „Ich habe Sport immer als etwas sehr Strukturierendes erlebt“, sagt Melanie Waelde. Sie selbst betreibt seit Jahren regelmäßig Kampfsport und ist fasziniert davon, was der Sport in uns auslöst, was er mit uns macht. „Nirgendwo werden klare Regeln so einfach akzeptiert wie beim Sport“, sagt sie. Und dieses Spannungsfeld zwischen dem Alltag der Jugendlichen, wo Grenzen stets neu ausgelotet werden, und der klaren Regelwelt des Sports, macht einen wichtigen Kern des Films aus. „Es ist schwierig, seine Grenzen zu finden, gerade für junge Menschen“, meint die Regisseurin.
Melanie Waelde selbst scheint ihre Grenzen immer bewusst gesucht zu haben: In Bayern geboren, ist sie mit 17 Jahren von zu Hause ausgezogen, um das Filmgymnasium in Potsdam zu besuchen. Das war für sie „völlig normal“, viele ihrer Freude sind mit 15 oder 16 zuhause ausgezogen. „Ich glaube, dass man nie wieder so stark ist wie mit 17“ sagt sie. Jedenfalls wusste sie offensichtlich damals schon ganz genau, was sie wollte: als Filmemacherin arbeiten. Film sei für sie schon immer sehr wichtig gewesen. Und so hat sie später Drehbuch an der dffb studiert und zugleich Regie geführt. „Sprache ist mir oft zu eindeutig, Filme sind mir lieber. Aber das Schöne an Drehbüchern ist, dass sie irgendwann verschwinden“, also im Film aufgehen.
Dabei kann das Schreiben für Melanie Waelde auch ganz einfach ein erfüllendes Handwerk sein. Seit Jahren ist sie im Drehbuchteam der Kinderserie „Schloss Einstein“. Sie genießt die Arbeit im Team, empfindet die Abwechslung zwischen Serien-Handwerk und Festivalfilmen als wohltuend. Und dann kam plötzlich die Einladung für die prestigeträchtige neue Berlinale-Reihe „Encounters“. Die ebenfalls neue Festivalleitung Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek hat sie ins Leben gerufen – für Filme, die „sich ästhetisch und formal auf neues Terrain vorwagen und das Feld der cineastischen Möglichkeiten erweitern“, wie es in der Sektions-Beschreibung heißt.
„Das ist natürlich total cool“, sagt Waelde. Und in der Tat: Für einen ersten Spielfilm einer jungen Regisseurin gleicht die Einladung einem Sechser im Lotto. Zuvor schon war die Finanzierung des Films die größte Herausforderung. Als die Produktionsfirma Czar Film quasi sofort nach Erhalt des Drehbuchs zusagte, war das eine riesige Überraschung. Einen Verleih hat der Film auch schon, für September ist der Kinostart geplant.
Der ganze Berlinale-Rummel ist für das junge Filmteam um Waelde recht aufregend und durchaus auch etwas beängstigend. Mit Blick auf ihre ungewohnten Verpflichtungen während der Berlinale – ein dicht gedrängter Terminkalender mit Empfängen, Diners, Interviews – ist Waelde nicht ganz unnervös, aber „da muss ich durch“. Sie wird auch diese neue Grenze für sich ausloten. Im Anschluss an das Gespräch in Berlin steigt sie mit einer riesiger Sporttasche überm Arm in die S-Bahn nach Potsdam – es geht nochmal ab ins Training.
Fotos: ©Czar Film