Berlinale 1965

Erste Schlacht zwischen Nord-Südvietnam - Malcom X wird ermordet - Ludwig Erhard wird Bundeskanzler - Bob Dylans „Like a Rolling Stone“ erscheint

Neue Organisation, neue Strukturen und veränderte Auswahl der Wettbewerbsfilme in diesem Jahr - voll im Zeitgeist also: Reformhaus Berlinale. Die sehr internationalistische, zugleich dem Grand Prix ähnelnde Jurymethode („Germany two points, Allemand deux point“), dass nämlich die Teilnehmerländer einen Vertreter in die Jury schicken, wurde abgeschafft und die Berlinale wählt nun ihre Jury selbst aus. Wie schon in der Vergangenheit war es unmöglich, das Filmfestival allein auf Grundlage künstlerischer Kriterien zu veranstalten: die Regierungen von Bund und Land redeten hinein, diplomatische Verwicklungen aufgrund eines provokanten politischen Films sollten in der Frontstadt Berlin auf jeden Fall vermieden werden und die Überkompensationsdemokraten in Bonn bekamen Bauchschmerzen, den Film eines „befreundeten“ Landes abzulehnen. Die Situation hatte aber auch einen positiven Effekt: weil man den Wettbewerb sauber halten wollte, rutschten skandalträchtige oder schwierige Filme in eine andere Sektion, genannt „Informationsschau“ - die Geburt der heutigen Sektionen wie Panorama, Perspektive usw. Dennoch wurde im Eröffnungsfilm Paris vu Par von einem Jungen das Foto Konrad Adenauers vom Tisch gefegt - dass er ihm auch noch die Augen ausstach, wurde rausgeschnitten - zu viel Revolte der Jugend.

Mit Filmen von Jean-Luc Godard, Satyajit Ray, Agnès Varda, Roman Polanski und Jean-Marie Straub/Danièle Huillet hatte das Programm Potential für ausreichend Debatten. Mitte der 60er Jahre schwimmt die Berlinale also voll im im Strom des Zeitgeists, der sich allmählich in allen Bereichen ausbreitete: schicke kurze Kleider, endlose Debatten, politischer und künstlerischer Konfrontationskurs der Jungen. Agnès Vardas Le Bonheur ist dabei ein schönes Beispiel, weil er sowohl formal in seinen eigenartigen Schnitten, der kontrapunktischen Mozartmusik und auch inhaltlich (die klassische Ménage à Trois als Utopie der Liebe) neue Formen suchte und ohne erhobenen Zeigefinger seine Figuren dabei beobachtet, wie sie versuchen Mensch zu sein.

Goldener Bär am Ende für Godards Alphaville, eine Art Science-Fiction-Noir. Er erzählt von einer Gesellschaft mit Ähnlichkeit zur gegenwärtigen aber zu einer technokratischen Diktatur verkommen. Eine Warnung.
Veränderungswille und Konfliktbereitschaft, die diese Berlinale wie eine Ouvertüre zum beginnenden Protest und der Neujustierung der Gesellschaft in den folgenden Jahren erscheinen lassen. Das Festival scheint den Namen „Gegenwartsschau des Films“ in diesem Jahr tatsächlich zu verdient zu haben.

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