THE BALLAD OF GENESIS AND LADY JAYE von Marie Losier

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Ein plus Eins gibt Drei

„Gesamtkunstwerk“ ist wie „Zeitgeist“ oder „Doppelgänger“ auch in die englische Sprache übergegangen. Diese drei Begriffe beschreiben zugleich, wer Genesis P. Orridge ist und mit wem er wann, was tat. Der Mann ist selbst Kunstwerk, er war Ausdruck eines Zeitgeistes, bis er seine eigene Zeit schuf und mit seiner Frau und künstlerischen Collaborateurin Lady Jaye (lange vor Lady Gaga eine Kunstfigur) eine Doppelgängerin, und eine Art Alter Ego erschuf. Ein kreativer, kluger, selbstironischer, konsequenter Künstler in einem beeindruckenden Film.

Diese Dokumentation ist nicht die übliche aus Talking Heads und chronologisch biografischer Aufarbeitung der Geschehnisse bestehende Arbeit, in der das Objekt selbst und alle Beteiligten, Weggefährten und Freunde weginterviewt werden und schon hat man einen Film. Diese Doku beginnt und endet mitten im Leben des Mannes und speist sich ansonsten vor allem aus Aufnahmen aus dem unfassbar umfangreichen Archiv Genesis P. Orridge zur Anti-Mainstream Kultur.

Orridge ist seit 30 Jahren eine innovative und einflussreiche Figur in Musik und Kunst: Er gilt als Erfinder der Industrial Musik, gründete die Gruppen COUM (69-76), Throbbing Gristle (75-81) und Psychic TV (81 bis heute), die Performance Kunst, Rockmusik und elektronische Musik zusammenbrachten.
Heute macht er darüber hinaus auch Bücher und Ausstellungen, schafft neue Kunst aus einem umfangreichen Archiv alternativer Musik und Filme, aus dem ein Film auch im Forum Expanded der Berlinale lief.

Im Zentrum des Films steht aber nicht die musikalische Arbeit oder die als bildender Künstler, sondern eine „Performance“ in Erweiterung des Joseph Beuys Gedanken: Das Leben als Kunstwerk. In Zusammenarbeit (falls man das überhaupt so nennen kann) mit seiner Frau Lady Jaye, beschloss Orridge als Zeichen und Ausdruck ihrer engen Verbundenheit eine „Fusion“ ihrer Körper. Der eigene Körper als Kunstwerk - das allerdings in einer Konsequenz und dabei Selbstverständlichkeit umgesetzt, die beeindruckt.
Die beiden haben sich durch chirurgische Eingriffe einander physisch angenähert, bis hin zu Brustimplantaten und Orridge weiblicher Kleidung. Sie nannten das Ganze „Die Schaffung des Pandrogyn“. Den Prozess zwei Individuen durch die Kreation eines Dritten zu erschaffen.
Dazu sagt Orridge: „My project is not about gender. Some feel like man trapped in a woman‘s body, others like a woman trapped in a man‘s body. The pandrogyne says, I just feel trapped in a body. The body is simply a suitcase that carries us around. Pandrogyny is all about the mind, conciousness.

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Durch den frühen Tod Lady Jayes 2007 ist THE BALLAD... eher Liebesfilm statt Künstlerbiopic. Ein zu höchst amüsanter, offener, mitunter bizarrer, aber vor allem befreiender Film. Er spielt mit dem Paradox, dass Äußerlichkeiten eines Menschen eigentlich keine Rolle spielen sollen, sondern Inhalte und Tun und Herz. Aber in unserer Welt, in der die Äußerlichkeiten eben doch das Sein bestimmen, funktioniert es nicht und zugleich doch. Solang man selbst entscheidet, so WILL ich aussehen. Nicht wegen Geschlechterrollen, Hautfarben oder Lidfalten, sondern schlicht und ergreifend, wer wir sind, weil wir sind, wer wir sind - physisch und geistig.

Genesis P. Orridge ist ein Mann, der es als seine größte Performance begreift, sein Äußeres seiner geliebten Frau immer ähnlicher zu machen. Sein „Sein“ ist die Kunst. Und das ist vielleicht, was auch Beuys eigentlich meinte, als er sagte, jeder sein ein Künstler: Sich selbst begreifen ist künstlerisch aber auch philosphisch im „Erkenne Dich selbst“ des Sokrates Ausgangspunkt einer Lebensphilosophie; Körper und Geist vereint in einer Idee.

William S. Burroughs schrieb über seinen Freund Genesis P. Orridge die folgenden Worte, die die Faszination beschreiben:
(Genesis) is the only person I‘ve ever met who I had hero-worshipped, who turned out exactly as I‘d expected him to be. (…) Inhumanly intelligent. I was interested in him primarily as a character, the way he lived, and he was a „more than real“- real life character.

Von diesem Mann handelt der Film. Er wirft einen Blick auf den Prozess der äußeren Veränderung des Körpers und verrät dabei viel über das Innere, das Wollen und Fühlen, die Kunst und das Leben. Großartig.

NACHTRAG: Der Film hat soeben den Caligari Filmpreis 2011 gewonnen. Zitat aus der Jurybegründung: "Ihre dokumentarische Collage ist keine angestrengte Analyse von Geschlechteridentitäten, keine klassische Musik-dokumentation, keine Freakshow. Die Regisseurin kommt den beiden Menschen, die sie portraitiert, spürbar nahe. " Genau!

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Titel

Orignaltitel

The Ballad of Genesis and Lady Jaye

Credits

Regisseur

Marie Losier

Kamera

Marie Losier

Land

Flagge FrankreichFrankreich

Flagge Vereinigte StaatenVereinigte Staaten

Jahr

2011

Dauer

75 min.

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