Christian Westheide: Zwei Dicke Striche
Tiziana Zugaro-Merimi: Ist schon ok, Baby!
Steffen Wagner: Denn sie wissen nicht, was sie wollen
Andreas Tai: Heulen am Schreibtisch
Zwei Dicke Striche
Berlinale Bilanz nach 10 Tagen Kellerassel-Existenz im Dunkeln
von Christian Westheide
Schön war’s, lang war’s, manchmal war ich sehr müde (8.30 Kartenschlange 22.30 letzter Film, dann tippen) aber von den Filmen seltenst ermüdet. Die künstlerisch-inhaltlichen Reisen haben an manchen Tagen von einem brasilianischen Anti-Prostitutions-Pamphlet, über einen Boxfilm aus Kanada, in ein Boudoir im Frankreich des 19. Jahrhunderts geführt, was mein Einfühlungsvermögen für Figuren, Themen und Stile wirklich herausforderte.
Der Wettbewerb soll ja nach Aussage der meisten mau gewesen sein.
Die Gründe, die von Kritikern genannt werden, bleiben meist etwas unkonkret und reflektieren eher ein diffuses Gefühl, ...das offenbar eher aus enttäuschten Erwartungen enstanden ist, weil es wenige wirklich formulierbare Mängel benennt: Dieses Jahr sollen noch weniger Perlen und dafür mehr matte Murmeln dabei gewesen sein. Ich weiß nicht. Vielleicht ist es mit so einem Festival wie mit Wein: Man kann am gleichen Weinberg, bei vergleichbaren Wetter die gleichen Methoden bei Pflege, Ernte und Verarbeitung anwenden (aufs Festival bezogen: bei Auswahl, Zusammensetzung und Vorstellung), und doch kommt manchmal ein durchschnittlicher, eher schwacher Jahrgang und manchmal einen Grand Cru dabei heraus.
Ich finde die ganzen Vorwürfe an Kosslick albern, er habe Filme nach dem Terminkalender der Stars ausgesucht, der Wettbewerb sei ein langweiliger Gemischtwarenladen ohne Profil.
Cannes und Venedig haben einfach Luxusprobleme: die müssen entscheiden WELCHEN der Stars und Starregisseure sie nehmen und entscheiden sich dann für den vermeintlich besseren FILM. (Und haben trotzdem oft genug mittelmäßigen Hollywood Krams im Wettbewerb).
Berlin muss immer eine Balance zwischen Anspruch und Angebot finden. Das gelingt manchmal besser, manchmal nicht so gut. Man kann auch nur mit dem arbeiten, was da ist; aber vielleicht wissen ja die Insider welche Meisterwerke die Berlinale hätte bekommen können und ablehnte 2007.
Die reflexartige Kritik an der Berlinale (zu unpolitisch, zu politisch, zu viele Stars, zu wenige Stars (oder die falschen), zu viele deutsche, zu wenig deutsche Filme, zu gemischt, zu einseitig...) konzentriert sich auf den Wettbewerb, während meiner Meinung nach die Qualität im Panorama und auch bei den manchmal wirklich „gewagten“ (Euphemismus!) Forumsfilmen in den letzten Jahren deutlich angestiegen ist. Besonders das Panorama hat sich mit Dokumenten und Specials zu einem eigenen Festival im großen Festival entwickelt, das zu besuchen allein sich schon lohnen würde.
Also zwei Striche unter meine ganz persönliche Berlinale:
Toll: Away from Her, Chrigu, Hotel Very Welcome, Deux Jours a Paris, Letters from Iwo Jima, Shotgun Stories, Four Friends, Takva, Blindsight, Zirkus is nich
Ok: Strange Culture, Campaign, La vie en rose, Substitute, Guten Morgen Herr Grothe, Poor Boy's Game, Dans le villes, Ne touchez pas la hache, Ferien, Bushi no Ichibun, The Walker
Naja: ..a bude hur, Autopiloten, Crossing the Border, Faces of a Fig tree, In Memoria di me, The Good German
So richtig Doofes war gar nicht dabei dieses Jahr. Mein persönlicher Abschlussfilm: „Comrades in Dreams – Leinwandfieber“ auch ein Glücksgriff: Kinofanatiker in Nordkorea, Burkina, USA und Indien, die bewiesen: Kino lebt, Kino ist im Kern immer Leidenschaft und Spiegelung des eigenen Lebens, ist Traum und Arbeit, ist universelle Kunstform und individueller Geschmack. So sei es!
von Tiziana Zugaro-Merimi
Auf dem Schirm hatte ich den diesjährigen Goldenen Bärengewinner nun wirklich nicht, aber: Tuyas Ehe war – für mich zumindest - schon ein guter, runder, starker und außergewöhnlicher Film. Auch wenn ich andere Filme bevorzugt hätte, gab es keinen Wettbewerbsbeitrag, bei dem ich gesagt hätte: der MUSS es unbedingt werden. Insofern kann nicht wirklich über die Entscheidung meckern. Ist schon ok.
Die Jury hat offensichtlich vor allem Filme bevorzugt, bei denen genau hingeschaut wurde auf „normale“ Figuren und ihre ganz menschlichen Probleme. Betont und bemüht (politisch) bedeutungsvolle Filme und große Gesten kamen dagegen nicht gut an (gut so!), und „Irina Palm“ hat die Jury vielleicht zu sehr als Feel-Good-Movie wahrgenommen. Das fand ich zwar nicht, der Film wäre einer meiner Favoriten gewesen, aber so ist das halt mit den Jury-Entscheidungen. Auf mich hört ja keiner!
„Beaufort“ (Regiepreis) war für mich ein Film, der lange nachwirkte, der die Absurdität des Krieges zeigt (aber eben auch jeden Krieges), bei dem ich mir aber immer noch nicht im klaren darüber bin, ob die Aussparung gewisser Fragen bezüglich des politischen Kontextes (Nahostkonflikt) nicht doch eine Schwäche statt eine Stärke des Filmes sind. Denk ich mal noch bisschen drüber nach...
Goldener Bär für Nina Hoss als Yella ist toll und absolut verdient. Und eine schöne Würdigung des Petzold-Films insgesamt. Schade nur, dass dadurch der zweite deutsche Wettbewerbsbeitrag wohl gar nicht mehr für einen Preis in Frage kam - ich fand, Karl Markovics als Hauptdarsteller in „Die Fälscher“ hätte den Darstellerpreis genauso (nicht mehr, aber genauso) verdient wie Julio Chávez.
Zugegeben: Julio Chávez führt einen komplett durch "El Otro" - der Film ist quasi er und sein Gesicht mit dieser tollen Understatement-Mimik. Insofern ist der Silberne Bär für ihn völlig ok, aber warum dieser argentinische Midlife-Crisis-Film so betont doppelt ausgezeichnet wurde (neben dem Darstellerpreis mit dem Großen Preis der Jury) kann ich nicht ganz nachvollziehen. Denn die formalen Besonderheiten des Films (lange Einstellungen auf leere Flure und Füße und Bäuche) waren jetzt nicht so der Superknaller. Fand ich.
Der Alfred-Bauer-Preis für neue Perspektiven in der Filmkunst für Park Chan-wooks „I’m a Cyborg, but that’s ok“ war nicht nur ok, sogar sehr verdient. War der einzige Film im Wettbewerb, der wirklich in dieser Hinsicht Außergewöhnliches zu bieten hatte.
Also: Zu apokalyptischen Gesängen muss man wegen dieses Wettbewerbs jetzt nicht anheben. Aber es gab schon wahrlich bessere Jahrgänge, mit mehr absolut beeindruckenden Filmen, meinetwegen auch mit mehr interessant kontroversen Filmen, die Stoff zur Diskussion boten. Hier war einiges ok, weniges richtig toll, und vieles nicht wirklich fit for Wettbewerb. Gerechterweise muss man dann aber auch sagen, dass nicht jeder Jahrgang gleich viele tolle Filme produziert, die dann auch noch für die Berlinale zur Verfügung stehen, und wenn die Stars nicht kommen, wird auch gemeckert.
Aber: Dass "Bordertown" im Wettbewerb lief, war eine Unverschämtheit, und auf „300“ hätte man besser auch außer Konkurrenz verzichtet. Von dem italienischen Wettbewerbsbeitrag, einem weiteren Tiefpunkt in der langjährigen Negativkarriere italienischer Berlinale-Wettbewerbsbeiträge zumindest der letzten sechs Jahre, schweige ich lieber. Ehrenhalber muss man sagen, dass man bei "In Memoria di Me" zumindest eine Ahnung davon bekam, dass sich hier ein Filmemacher kluge Gedanken gemacht hat, aber dann leider sehr prätentiös und total auf die Nase gefallen ist.
Alles in allem würde ich über den Wettbewerb sagen: War schon ok. So richtig hin- und mitgerissen wie im vergangenen Jahr war ich aber lange nicht. Die Berlinale hat vor allem dann Spaß gemacht, wenn man sich zwischendurch auch die zum Teil sehr guten Beiträge in Forum, Panorama, Perspektive und Retrospektive angeschaut hat. Da war die Berlinale echtes Filmfest. Insofern: Warten wir halt mal auf nächstes Jahr.
Denn sie wissen nicht, was sie wollen
von Steffen Wagner
Tja, jetzt haben sich anscheinend alle Großkritiker auf Kosslick eingeschossen. Sie nölen wegen der Stars, sie nölen, weil die Filme zu langweilig und pseudo-künstlerisch gewesen seien. Die Filme sind wahlweise nicht anspruchsvoll, nicht emotional oder nicht spannend genung, zu nah am Massengeschmack, zu weit vom Publikum entfernt, zu abgehoben, sind Massenware, chancenlose Nischenfilme was auch immer.
Sicher gab es Ausreißer: "300" hatte nichts im Wettbewerb zu suchen und (wenn man das glauben kann, was man liest und hört) "Bordertown" sicher auch nicht.
So schlimm kann es aber alles nicht sein. Habe 15 Filme gesehen.
2 schlechte: Elvis Pelvis, Berlin Song
2 zwiespältige: Andy Warhol Docu, When Darkness Falls
2 Durchschnitt (aber lustig): 300, aka. Nikki S. Lee
4 gute: AlleAlle, Hotel Very Welcome, Good Sheperd, Interview
3 sehr gute: Comrades in Dreams, Scott Walker: 30 Century Man, Walk into the Sea
2 tolle Klassiker: Killer of Sheep, Bonnie & Clyde
Das ist keine schlechte Bilanz. Außerdem ist die Berlinale ganz offensichtlich ein guter Ort für spannende Dokus. Das ist doch was. Die, die jetzt über die oberflächlichen Stars nölen, würden hysterisch greinen, wenn im nächsten Jahr weniger auf dem roten Teppich zu sehen sind.
Eine Bitte: Könnte mal dieses ständige Gelaber vom "politischen Festival" aufhören? Das ist mittlerweile eine echte Leerformel.
Heulen am Schreibtisch
Zur Kritik der Presse an der Berlinale 2007
von Andreas Tai
Wie Steffen es bereits in seinem Beitrag geschrieben hat: Du kannst es keinem Recht machen. In Spanien, bei dem kleineren A-Festival in San Sebastian beschwert, sich die Presse immer über zu wenig Glamour, hier in Berlin gibt es auf einmal zu viele Stars. Die Kritik in der deutschen Presse am diesjährigen Wettbewerb der Berlinale ist nicht nur ungerecht, sondern offenbart auch ein realitätsfernes Verständnis der großen Filmfestivals.
Der Wettbewerb ist weniger das künstlerische Rückgrat, als das ökonomische Rückgrat der großen A-Festivals in Cannes, Venedig und Berlin. Die diesjährige Berlinale hatte einen Etat von 16 Millionen Euro. Warum geben die Sponsoren und die öffentliche Hand so viel Geld für 10 Tage Showbiz? Damit die künstlerisch wertvollsten Filme gezeigt werden können? Doch wohl eher um Publicity zu bekommen, sei es nun für den Standort Berlin oder für ein bestimmtes Produkt. Dafür sind Stars wie Clint Eastwood, Robert De Niro oder Jennifer Lopez unverzichtbar. Es ist Bürde des Wettbewerbs und von Dieter Kosslick im Wettkampf der Aufmerksamkeit für die Gesamtberlinale zu glänzen. Er bemüht sich deshalb, um die „Big Names“. Kosslick hält damit, und das wird oft verschwiegen, den anderen Sektionen wie Forum und Panorama den Rücken frei. Christoph Terhechte und Wieland Speck haben bei der Gestaltung ihres Programms viel größere Freiheiten als der Festspielleiter. Kosslick muss nicht nur für Glanz und Glitzer sorgen, sondern auch die Auflagen der FIAPF (Fédération Internationale des Associations de Producteurs de Films) erfüllen. So hätten z. B. „Blindsight“ von Lucy Walker oder „Away from her“ von Sarah Polley gar nicht im Wettbewerb gezeigt werden können. Der Gewinner des Panorama Publikumspreises „Blindsight“ ist erstens ein Dokumentarfilm und lief vor der Berlinale schon im September 2006 auf dem Filmfestival in Toronto. „Away from her“ lief vor der Berlinale sogar auf vier Festivals (Toronto, Vancouver, Sundance und Santa Barbara).
Besonders paradox erscheint mir, dass die Kritiker des Wettbewerbs für Zeitungen schreiben, die Robert De Niro, Clint Eastwood und Cate Blanchett groß herausbringen, aber über Filme aus Sektionen wie dem Forum nur sehr selektiv berichten. Dabei ist das Forum die Sektion, die von Filmkritikern gegründet worden ist, um den künstlerischen Aspekt des Filmes stärker Rechnung zu tragen. Wenn die Presse sich dann trotzdem auf den Wettbewerb einschießt, dann kann ich Kosslick gut verstehen, wenn er sagt, er mache kein Festival nur für die Filmkritik.
Ich jedenfalls bin sehr zufrieden mit dieser Berlinale. Keiner kann mir erzählen, dass unter den hunderten von Filmen nicht genug Highlights dabei gewesen wären. Herausragend für mich waren Filme wie „Wolfsbergen“, „Ferien“, „Yella“ oder „Away from her“. Kollegen haben „Shotgun Storys“, „Campaign“, „Alle Alle“ und „Jagdhunde“ entdeckt. Dass sich neben diesen gelungenen Filmen auch „Bordertown“ in den Wettbewerb geschlichen hat, finde ich OK. Erst heute Morgen habe ich einen Beitrag über die „Bordertown“ Ciudad Juárez auf Deutschlandfunk gehört. Nur wegen dieser Art der Publicity (und natürlich auch wegen J-Lo) hat Kosslick „Bordertown“ in den Wettbewerb genommen. Man muss es nicht immer wieder herausposaunen, wie politisch man ist, aber in der Sache finde ich es gerechtfertigt, einen Film nur wegen seiner politischen Botschaft zu berücksichtigen.
Was die Berlinale auszeichnet, ist Programmvielfalt. Sie ist so groß, dass man sich seine persönliche Berlinale zusammenstellen kann. Wie bei einer Reise nach London oder Venedig wird man Entdeckungen nur machen, wenn man nicht nur an Big Ben und der Piazza San Marco vorbeirauscht.