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Eine flexible Frau von Tatjana Turanskyj

Mein Taxifahrer ist genervt. Nicht nur von der hupenden und hetzenden Meute hinter ihm. Ihn nervt vor allem, dass er als ausgebildeter Ingenieur Taxifahren muss. Er hat dies schon zu Studienzeiten gemacht, doch inzwischen ist das etwas anderes. Seine Erwartungen und auch die Erwartungen der Gesellschaft an sein Leben haben sich geändert. Oft ist es nicht die Situation an sich, die sie unerträglich macht, sondern die Fallhöhe, aus der man in sie gelangt. Das verbindet meinen Taxifahrer mit Greta aus Tatjana Turanskyjs Debütfilm Eine flexible Frau.

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Im Schatten von Thomas Arslan


Raub ist Arbeit

Ein Krimineller ist ein selbständiger Unternehmer. Er muss investieren, planen, Personal anstellen, Aufgaben verteilen, kontrollieren und dafür sorgen, dass das Geld reinkommt. Wenn alles gut läuft, verdient man damit gutes Geld, wenn es schiefgeht, haftet man persönlich. Trojan (Misel Maticevic) hatte mit seinem letzten Unternehmen, einem Raubüberfall, wenig Glück, deshalb hat er einige Zeit im Gefängnis verbracht. Nun ist er wieder auf dem Berliner Markt tätig und sucht nach der nächsten Gewinnchance. Im Schatten ist ein deutscher Kriminalfilm, in 20 Jahren wird man sagen der deutsche Kriminalfilm.

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Sunny Land von Aljoscha Weskott und Marietta Kesting

Erinnerungs-Sauce

Ok, ich geb‘s gleich zu, nach 50 Minuten hatte ich genug. Mein erstes Filmflüchten dieser Festspiele. Aber was die Regisseure einem hier kredenzten war geschmacklose Erinnerungssauce ohne Erinnerungen aus erster Hand zu haben, weder gar noch bissfest. Eine wirrer Cut-up von Interviews, kunstmäßig daherkommenden Videoaufnahmen von einem Pool oder einer Treppe, dann Archivaufnahmen von einer Misswahl und Videoschnipsel aus Privat- oder Fernseharchiven. Eine mit schwerem deutschen Akzent sprechend Off-Stimme von einem nicht näher erläuterten "Hans" gibt dazu sinnlose, aber unheimlich gravitätisch daherkommende Kommentare zu Archivbildern von Sun City in Südafrika ab - einer Kunststadt wie Las Vegas, nur eben zu Apartheid Zeiten gebaut.

Als der inzwischen zu oft gehörte, dadurch nicht weniger falsche Vergleich zu Israel und Palästina gemacht wurde, und Hans, laut seiner Erzählung, als er den Vergleich begriff, darüber im Hotelzimmer weinte, war es genug für mich. So was passiert, wenn Kulturwissenschaftler Filme machen.
Was für eine prätentiöser, vierteldurchdachter, verkünstelter Film! Hier wurde versucht, Sans Soleil zu kopieren und eine Reflexion über Nicht-Orte zu klöppeln. Mehr ist es nicht.
(Und wenn mir jetzt einer erzählt, die zweite Hälfte des Films sei aber gaaaaanz anders gewesen, so reicht es trotzdem nicht)

Schnupfen im Kopf von Gamma Bak

Was brauche ich, um ich zu sein?

Bin ich ich? Was brauche ich, um ich zu sein - Medikamente? Helfen mit die Medikamente dabei, ich zu sein oder verhindern sie es? Solche Fragen stellt man sich im Alltag eigentlich nicht. Natürlich bin ich ich. Wer sollte ich denn sonst sein? Seit bei der Regisseurin Gamma Bak vor 15 Jahren eine Psychose diagnostiziert wurde, muss sie sich mit diesen Fragen auseinandersetzen. Sieben Jahre nach der Diagnose entschloss sie sich mit einer filmischen Langzeitbeobachtung zu beginnen, in die sie auch Freunde und ihre Familie mit einzubeziehen. Schnupfen im Kopf ist das Ergebnis dieser achtjährigen Beobachtung. Der Film ist erreicht etwas Wertvolles: Er gibt einen sehr persönlichen Blick auf den Verlauf einer Krankheit, über die die Wenigsten sprechen wollen und ist dabei offen, ohne die Distanz zu verlieren oder sich dem Zuschauer aufzudrängen.

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I‘m in trouble von So Sang-min

Och neeee…, macht ihr ruhig...

Im letzen Jahr gab es den Treffer-Film Wir sind schon mittendrin über ein paar deutsche Thirty-Somethings, die Weg und Ziel noch immer nicht ganz finden konnten und einfach ihren wechselnden Ideen folgen - sich dabei aber dem Vorwurf aussetzen, nicht erwachsen (was immer das heißt) werden zu wollen.
Wie dieser koreanische Film zeigt, ist das Phänomen offenbar international: Sun-woo ist ein Dichter mit Uniabschluss, den man im gesamten Film nicht schreiben sieht, stattdessen viel trinken, rumstoffeln, schlafen, schlafen, schlafen und mit den Frauen nicht zurecht kommen. Außerdem kniet er im Verlauf des Films einige Male und muss sich auch auf andere Arten bei Freunden und Fremden entschuldigen.

Seine Freundin Yuna macht Schluss mit ihm, er will sie zurück, aber irgendwie auch nicht so richtig - weil er nichts so richtig will. Aber Alleinsein ist auch doof. Der Schlüsselsatz des Films kommt von ihr: Immer wenn ich dir fern bin, verlangst du nach mir, und wenn es ernst wird, ist es dir zu eng. So geht es dem traurigen Helden mit allen Dingen des Lebens wie es scheint.

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Sawako Decides von Ishii Yuya

Die junge Sawako hat es nicht leicht. Seit fünf Jahren hangelt sie sich in Tokio von einem trostlosen Job zum nächsten, und ihr derzeitiger Freund ist auch nicht gerade ein Lichtblick. Die Schikanen im Büro und die Luschigkeit des Freundes werden in absurd komischen Szenen zur schrillen Farce eines durchschnittlichen Lebens. Die Chefs und Mitarbeiter im Büro scheuchen die junge Frau durch die Gegend und machen sich aufs Perfideste über sie lustig. Der Freund, ein allein erziehender Vater und erfolgloser Spielzeugdesigner ohne einen Funken von Kreativität, ist seit kurzem zwecks Profilschärfung auf dem Ökotrip und permanent am Pullis stricken. Und Sawako? Die verweigert scheinbar kategorisch jeglichen Widerstand gegen die Umstände. Sie saugt all den Trübsinn um sie herum ergeben in sich auf, bekennt sich in entwaffnender Offenheit zur eigenen Unterdurchschnittlichkeit, schüttet Unmassen von Dosenbier in sich herein, und stolpert einfach weiter durchs Leben. Doch dann muss sie auf einmal überraschend die Muschelfabrik ihres schwerkranken Vaters in der Provinz übernehmen.

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El recuento de los danos - The Counting of Damages von Inés de Oliveira Cézar

Komplex mit Mutter

Die Straße am Anfang, minutenlang der Blick nach vorn durch platte Landschaft. Nichts geschieht und doch ist viel geschehen. Ein junger Mann wird von den Financiers einer Firma in die Provinz geschickt, um die Rentablität einer Fabrik zu überprüfen. Er hat einen Platten, sucht Hilfe, es passiert ein Unfall. Als er am nächsten Tag ankommt, ist in der Fabrik gedrückte Stimmung: der Eigentümer ist umgekommen. Der Mann im Anzug will nun die gemächlichen Prozesse in Schwung bringen und beginnt - man kann nur sagen aus dem Nichts - ein Verhältnis mit der Witwe. Deren Bruder ist nicht nur gegen die Reformen, sondern aus einem noch nicht erklärbaren Grund auch gegen die Beziehung. Aber alle Leidenschaft und Wut und Trauer ist nur zu erahnen.
Alles scheint innerhalb einer Woche zu geschehen, der tote Patriach wird nicht mehr erwähnt, auch die Töchter reden kein Wort mehr über ihn, die Mutter trifft ihren jungen Liebhaber, Unfälle in der Fabrik häufen sich.

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Kanikosen von Sabu


Vorwärts im Krabbengang

Die Geschichte von Ausbeutung, Unterdrückung und Revolte ist im Kino schon auf völlig unterschiedliche Weise erzählt worden: opulent wie bei Eisenstein, ganz nah dran am Alltag wie bei den italienischen Neorealisten, es gibt sie als Tragödie, Komödie und Science Fiction. Der Japaner Sabu hat sich bei der Verfilmung von Takiji Kobayashis Roman Kanikosen aus dem Jahr 1929 für eine Mischung aus Fantasie und Realismus, aus Satire und bitterem Ernst entschieden. Die Figuren in Sabus KANIKOSEN sind Typen, aber sie sind in ihrer Typenhaftigkeit extrem präsent und noch Wochen nach dem Kinobesuch von bleibender Wirkung. Der Film lehnt sich in seiner Ästhetik zudem deutlich an die Manga-Version des Romans an, die 2006 für ein Revival des Stoffes sorgte.

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La belle visite von Jean François Caissy

Das lange Warten


Irgendwo in der Nähe von Québec. Ein umgebautes Motel, eingeklemmt zwischen Schnellstraße und Meer, dient als Altersheim. Die Bewohner haben vor allem eins: viel Zeit. Kleine alltägliche Verrichtungen wie der Gang zum Frühstückstisch oder der Besuch bei der Diätberaterin werden von den alten Menschen ausgiebig zelebriert. Irgendwie muss ja diese schier endlose Spanne von freier Zeit gefüllt werden. Im Sommer ist es schöner, da kann man sich wenigstens auf dem schmalen Streifen Natur, das einen vom Meer trennt, vom Wind durchpusten lassen. Im Winter dominiert das Klaustrophobische in den bemüht gemütlich gestalteten Zimmern und in den kahlen, funktionalen Gängen des Heims.

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Interview mit Ulrich Gregor

„Irgendetwas musste man ja tun“

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Ulrich Gregor, 1932 in Hamburg geboren, arbeitete als Filmkritiker, Filmhistoriker und Festivalleiter. Der studierte Romanist und Publizist hob 1957 gemeinsam mit Enno Patalas die Zeitschrift "Filmkritik" aus der Taufe. Mit seiner Leidenschaft für das, was gute, neue und aufregende Filme ausmacht, hat er Filmgeschichte geschrieben: 1963 gründete Gregor zusammen mit seiner Frau Erika den Verein "Freunde der deutschen Kinemathek" in Berlin, 1970 kam das Kino Arsenal dazu, 1971 dann die Gründung der Berlinale-Sektion Internationales Forum des jungen Films, die er bis 2001 leitete. Zudem publizierte er umfangreich zur Geschichte des Films. Ulrich Gregor lebt in Berlin. Tiziana Zugaro und Claudia Palma sprachen mit ihm übers Filme machen, Filme finden und Filme zeigen in Zeiten des Kalten Krieges.

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Forum: Meerestiere und andere Leckerbissen

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Das Forum verspricht wie immer einige wirkliche Leckerbissen in seinem umfangreichen Programm – und viele Filme, von denen man sich einfach mal überraschen lassen muss. Die Berlinale schreibt dazu: „Das Forum der Berlinale versammelt in seinem 40. Jahr Filme, die sensibel auf die Zeitstimmung reagieren. Selten fand man in Spiel- und Dokumentarfilmen so viele Menschen in unauflöslichen Konflikten gefangen, vor lebenswichtige Entscheidungen gestellt und mit Abgründen konfrontiert wie in der diesjährigen filmischen Auslese.“ Nun denn.
Auf alle Fälle freuen kann man sich auf den neuen Filmen des japanischen Enfant Terrible Sabu: Mit KANIKOSEN hat der Regisseur von POSTMAN BLUES (1997), MONDAY (2000) und HARD LUCK HERO (2003) eine gelungen skurrile Verfilmung des Romans von Takiji Kobayashi aus dem Jahr 1929, der 2006 in einer Manga-Version ein Revival erlebte, auf die Leinwand gebracht.

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