TODOS OS MORTOS (ALL THE DEAD ONES) von Caetano Gotardo und Marco Dutra (Berlinale 2020)

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Der köstliche Kaffee aus Brasilien – bis 1888 waren vor allem versklavte Männer, Frauen und Kinder auf den großen Plantagen dafür zuständig, ihn anzubauen, zu ernten, zu verarbeiten – und zu servieren. Caetano Gotardo und Marco Dutra unternehmen in TODOS OS MORTOS den Versuch, die Auswirkungen dieser Geschichte anhand zweier miteinander eng verknüpfter Familienschicksale zu ergründen. Ehemalige Sklaven und ehemalige Sklavenhalter lebten kurz vor der Jahrtausendwende Seite an Seite in einer Gesellschaft, die sich im Aufbruch in die Moderne befand. Die entscheidenden Figuren in dieser Erzählung sind Frauen, die Männer sind als Versorger weitestgehend unbrauchbar – und die Geschichte ist in diesem mit langem Atem erzählten Film alles andere als Geschichte.

Als das schwarze Dienstmädchen der Familie Soares in São Paolo stirbt, wissen die drei Frauen im Haushalt nicht, wie sie jetzt zurechtkommen sollen. Die kränkliche Mutter war es ein Leben lang gewohnt, rundum bedient zu werden und schwelgt weiter in nostalgisch verklärten Erinnerungen. Die leicht gestörte jüngere Tochter flieht ins Klavierspiel und in die Gartenarbeit, während ihr nachts immer wieder die Geister verstorbener Sklaven erscheinen. Da sie bereits weit über das heiratsfähige Alter hinaus ist, und zunehmend geistig verwirrt erscheint, zieht die Familie es sogar in Betracht, in puncto Rassenreinheit ein Auge zuzudrücken und sie mit einem Cousin zu verheiraten, dessen Mutter eine ehemalige Sklavin war. Unter diesen Umständen obliegt es der älteren Tochter, einer Nonne, die Dinge am Laufen zu halten. Sie sucht auf der ehemaligen Plantage nach Ersatz für den Haushalt und zugleich nach ein bisschen afrobrasilianischer Religion, um der kranken Mutter zu helfen.

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Das Zusammentreffen der Familie Soares mit der ehemaligen Sklavin Iná lässt all die Verletzungen und Tragödien wieder lebendig werden, die in der Vergangenheit passiert sind und weiterhin die Gegenwart der Figuren beeinflussen. Inà wurde einst von der Plantage verstoßen, weil sie ihre eigene Religion praktizierte – nun soll sie die Soares-Patriarchin mit gerade dieser Religion heilen. Inás Familie war bereits durch die Sklaverei auseinandergerissen worden – und jetzt sucht ihr Ehemann verzweifelt eine Arbeit in einem Land, das auch nach der Abschaffung der Sklaverei zutiefst rassistisch geprägt ist und schwarzen Menschen kaum eine Chance gibt. Für die Arbeitssuche hat nun auch er die Familie verlassen. Ihren kleinen Sohn versucht Iná so gut wie möglich auf das Leben vorzubereiten, das vor ihm liegt. Er ist die neue Generation, in Freiheit geboren, auf ihm ruhen die Hoffnungen der Eltern. Er geht ohne Scheu und weitgehend ohne Vorbehalte mit der weißen Familie um – eine gefährlich naive Haltung, wie sich zeigen wird.

Während Mutter und Tochter Soares geistig und körperlich immer weiter verfallen, schaffen es Iná und ihre Familie, in der Stadt Fuß zu fassen und ihren Platz in der Gesellschaft, wenn auch am Rande, zu behaupten. Doch die Geister der Vergangenheit lassen sich nicht beiseiteschieben – und haben zuletzt schreckliche Auswirkungen auf die Gegenwart.
Die Regisseure lassen immer wieder Elemente des zeitgenössischen São Paolo in die 19. Jahrhundert-Szenerie einfließen. Subtil, wie eine mit Grafitti bekritzelte Wand im Hintergrund, oder krasser, wie die Geräusche eines landenden Flugzeugs und urbaner Verkehrslärm. Die Art, wie die schwarzen Frauen in dem Film den ehemaligen Herrinnen selbstbewusst gegenüberstehen, Widerworte geben und ihr Recht einfordern, erscheint geradezu modern – ob eine ehemalige Sklavin zehn Jahre nach dem Ende der Sklaverei-Gesellschaft das so gewagt hätte und dass eine solches Verhalten keine Konsequenzen nach sich gezogen hätte, darf bezweifelt werden. Als Stilmittel in einem Film, der die Zeitschichten durchlässig erscheinen lässt, ist es legitim und wirkungsvoll. Ganz zum Schluss heben Gotardo und Dutra die Trennwand zwischen Filmzeit und Gegenwart komplett auf, die Zeitebenen fließen ineinander. Denn: Die Vergangenheit ist niemals zuende.

Fotos: © Hélène Louvart/Dezenove Som e Imagens

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Titel

Orignaltitel

Todos os mortos

Englischer Titel

All the Dead Ones

Credits

Regisseur

Marco Dutra

Caetano Gotardo

Schauspieler

Thomás Aquino

Agyei Augusto

Carolina Bianchi

Rogério Brito

Alaíde Costa

Clarissa Kiste

Andrea Marquee

Thaia Perez

Leonor Silveira

Mawusi Tulani

Land

Flagge BrasilienBrasilien

Flagge FrankreichFrankreich

Jahr

2020

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