PERSIAN LESSONS von Vadim Perelman (Berlinale 2020)

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Weil Menschen eine Sprache haben, haben auch Nazis eine Sprache – gewiss keine schöne. Das wird bereits in der Eröffnungsszene von Vadim Perelmans PERSIAN LESSONS klar, in der der Hauptsturmführer Klaus Koch (Lars Eidinger) die Aufseherin Elsa (Leonie Benesch) zusammenschreit, weil sie keine gleichförmigen Buchstaben schreibt und die Linien in ihren Gefangenenlisten unordentlich gezogen sind. Sprache und Erinnerung, das sind die beiden großen Themen des Films. Das Sprachvermögen und das Erinnerungsvermögen sind zutiefst menschliche Fähigkeiten. Die beiden Menschen im Zentrum des Films sind SS-Hauptsturmführer Koch, der für die Offiziersküche eines Übergangslagers verantwortlich ist, und der jüdische Gefangene Gilles (Nahuel Pérez Biscayart), der behauptet, ein Perser namens Reza zu sein. Weil Koch davon träumt, nach dem Krieg in Teheran ein Restaurant zu eröffnen, macht er Gilles zu seinem Sprachlehrer. Für Gilles ist das eine kleine Chance, sein Leben zu retten. Aber um das zu schaffen, muss er seine eigene Version von Farsi erfinden und sie dem Hauptsturmführer beibringen, ohne dass der Schwindel auffliegt.

Gilles steht nun vor der Herausforderung, Worte und ihre Bedeutungen aus dem Nichts zu erschaffen. Das klingt auf den ersten Blick einfach, ist auf den zweiten Blick aber unfassbar schwierig. Schließlich muss sich Gilles die Worte auch merken, die er erfindet. Er gewinnt das Vertrauen des SS-Manns Koch und durch Sprache entsteht Nähe. Die Worte, die Gilles sich ausdenkt, klingen schön: Bala – Löffel, Rut – Teller, Radj – Brot. Radj führt in die Katastrophe. Als Koch während eines Picknicks nach dem Wort für „Baum“ fragt, sagt Gilles „Radj“. Durch diesen Fehler fühlt Koch sich betrogen. Er schlägt Gilles halb tot und verbannt ihn in den Steinbruch zur Arbeit mit den anderen Häftlingen.

Erst nachdem Gilles zusammenbricht und im Delirium in seinem erfundenen Farsi murmelt, glaubt der Hauptsturmführer, dass er doch Perser ist. Nun wird die Beziehung der beiden Männer noch enger. Gilles darf jetzt sogar Kochs Schreiber sein. Ja, der SS-Mann, der sich in seiner vermeintlichen Herrenmenschenrolle durchaus gefällt, will gemocht werden. Wie gesagt, Sprache erzeugt Nähe. Gilles hat mittlerweile ein System gefunden, wie er den Wortschatz von Koch erweitert. Er nimmt Teile der Häftlingsnamen aus den Listen und macht aus ihnen falsches Farsi. Mit dieser Methode kann er sich auch perfekt an seine Wortschöpfungen erinnern.

Um die Beziehung von Koch und Gilles herum erzählt der Film ein ebenso alltägliches wie brutales Lagerleben. Banale Liebesgeschichten zwischen dem Küchen- und Wachpersonal wechseln mit Erschießungen, komische Szenen wechseln mit blutig-tragischen. Eidinger und Biscayart sind in ihren Szenen spannend und berührend, manchmal komisch und immer überzeugend. Der Film selbst kippt manchmal und wird zur Farce: Auf einmal sind Gerüchte über die Penislänge des Lagerkommandanten ein wichtiges Thema, der Lageralltag bleibt grimmig und gewalttätig. In solchen Momenten ist PERSIAN LESSONS hart an der Grenze zur moralischen Obszönität. Hat es der Film „verdient“, Fragen von Schuld zu diskutieren, wenn er das Banale und Blöde so neben das Moralische stellt und dabei mit Pathos nicht spart? Ich habe selbst keine klare Antwort darauf.

Gilles weiß schon lange, dass seine Sonderstellung auch ein Fluch ist. Seine Beziehung zu Koch – „sag Klaus zu mir“ – ist mittlerweile so eng, dass Gilles ihm sogar anklagende Fragen stellen kann. Irgendwann marschieren die Amerikaner auf das Lager zu. Die SS-Kommandierenden verbrennen hektisch Akten, Koch flieht und Gilles überlebt. Er gibt den Amerikanern die Namen von fast 2.500 getöteten Häftlingen zu Protokoll, die er sich für seinen erfundenen Wortschatz ins Gedächtnis eingeprägt hat. Die Sprache und die Erinnerung sind nicht auszulöschen. Das ist eine Antwort, die mich überzeugt.

Foto: Hype Film

Kommentare ( 1 )

Toll beschrieben. Möcht ich sehen!

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Titel

Orignaltitel

Persian Lessons

Credits

Regisseur

Vadim Perelman

Schauspieler

Leonie Benesch

Alexander Beyer

Nahuel Pérez Biscayart

Lars Eidinger

Luisa-Celine Gaffron

Jonas Nay

David Schütter

Land

Flagge WeißrusslandWeißrussland

Flagge DeutschlandDeutschland

Flagge Russische FöderationRussische Föderation

Jahr

2019

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