Wir begleiten drei chinesische Paare, eine Single-Frau und drei Kinder als Kino-Zuschauer über drei Stunden hinweg durch ihr Leben – oder auch über einen Zeitraum von 40 Jahren, je nach Sichtweise. Kulturrevolution, Ein-Kind-Politik, Wirtschaftsreform und Turbo-Kapitalismus sind die politischen und gesellschaftlichen Eckpunkte, die – ebenso wie eine private Tragödie – tief gehende Spuren im Leben der Protagonisten hinterlassen. Oder sollte man besser von Narben sprechen? Meisterlich breitet Regisseur Wang Xiaoshuai in DI JIU TIAN CHANG ein Tableau ineinander verschränkter Handlungsstränge, Zeitebenen und Emotionen vor uns aus – und macht damit eindrücklich erfahrbar, was sonst gern als wohlfeiles Diktum behauptet wird: dass das Private und das Politische untrennbar miteinander verwoben sind.
Der Unfalltod eines kleines Jungen, der Verlust eines ungeborenen und der erneute Verlust eines zutiefst unglücklichen Kindes, Schuldgefühle, tiefe Trauer und Geheimnisse: Das klingt nach hartem Tobak, und in der Tat müssen während der Vorführung schon mal die Taschentücher gezückt werden. Doch immer wieder gibt es auch Momente der Entspannung, der Erholung, der Freude – wie im Leben auch. Entscheidend ist, dass Wang wie ein Virtuose mit seinem Material spielt – die Charaktere entfalten ihr Seelenleben auf eine Art, dass man nicht die Augen von ihnen abwenden möchte. Die Kamera hält Distanz, wenn Distanz angebracht ist, nähert sich, wenn Nähe zwingend erforderlich ist. Symbolisch aufgeladene Bilder werden stimmig eingesetzt, wirken aber niemals aufgesetzt. Die Tonspur, wiederkehrende Melodien von Boney M über Auld Lang Syne bis Mozart liefern auf einer zusätzlichen Ebene Informationen, Stimmungen und Schlüssel zum Verständnis.
Wie die euphemistisch als „Familienplanung“ verbrämte Zwangsabtreibung im Rahmen der Ein-Kind-Politik Menschen in China angetan hat, welche Verletzungen die Kulturrevolution hinterlassen hat, auf welch wahnwitzige Weise sich die Menschen immer neuen staatlichen Doktrinen anpassen mussten – ohne viel Aufhebens werden diese Themen in Schlüsselszenen des Films deutlich. Und die Konsequenz, die Haltung, die der Film dazu hat, ist eindeutig. Die Wahrheit gegenüber sich selbst und anderen, die Wahrheit, was den Schmerz im Inneren, was die Zumutungen der Vergangenheit angeht: Das ist die einzige Chance, die wir Menschen haben, um zu heilen, um Mensch zu sein und um nicht verrückt zu werden.
DI JIU TIAN CHANG überzeugt auf ganzer Ebene, und man muss ihm viele, viele Bären wünschen – hier wäre vieles möglich und alles gerechtfertigt.
Fotos: © Li Tienan / Dongchun Films