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Berlinale 2016: WIR SIND DIE FLUT von Sebastian Hilger

Schockstarre am Wattenmeer

Vor 15 Jahren ist vor der Küste von Windholm das Meer verschwunden und mit ihm alle Kinder des Ortes. Zwei junge Physiker aus Berlin machen sich auf, das geheimnisvolle Phänomen zu untersuchen. Dabei werden sie mit ihrer eigenen Geschichte konfrontiert. WIR SIND DIE FLUT ist der Abschlussfilm von Sebastian Hilger an der Filmakademie Ludwigsburg; er wurde gemeinsam mit der Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolff (Potsdam) und unter Beteiligung des rbb realisiert. Hilger überzeugt mit einer Story, die Raum für offene Fragen lässt, und mit äußerst stimmungsvollen Bildern.

Der junge Micha möchte die Forschungskommission seiner Berliner Uni davon überzeugen, dass er mit neuen Messungen dem Geheimnis von Windholm auf die Spur kommen kann. Doch das Establishment hat wenig Verständnis für die Hartnäckigkeit des Nachwuchswissenschaftlers. Als dann auch noch Michas Exfreundin und Kommilitonin Jana auftaucht, die sich vor einem Jahr sang- und klanglos aus dem Staub gemacht hat, findet Micha, dass es an der Zeit ist, zu handeln: Er macht sich kurzerhand auf eigene Faust auf an die Ostsee - und Jana begleitet ihn.

Am Meer angekommen, treffen die beiden jungen Leute vor allem auf die Ablehnung der Dorfbewohner. Sie leben seit den seltsamen Vorkommnissen wie in Schockstarre. Eigentlich wollen sie nicht mehr an das Ereignis erinnert werden, das ihnen damals die Kinder genommen hat. Auf der anderen Seite sind sie wie in einer Zeitschleife gefangen und leben quasi in der Erinnerung an die Vergangenheit. Mit fahlen Farben, halb eingefallenen Gebäuden, überwucherten Grünanlagen schafft WIR SIND DIE FLUT eine Kulisse, die ein wenig an Tarkowskijs STALKER erinnert. Damit fängt der Film die eigenartige, gelähmte Stimmung des Ortes kongenial ein.

Aufgrund unkonventioneller Berechnungen und einer zündenden Idee kommt Micha dem Geheimnis von Windholm langsam auf die Spur. Zugleich begibt er sich auf die Spuren eines kleinen Jungen, der genau an dem Tag gestorben ist, an dem sich das Meer zurück gezogen hat, und dessen Hinterlassenschaften seltsame Parallelen zu Micha selbst aufweisen. Draußen auf dem Wattenmeer hat Micha sogar eine (reale?) Begegnung mit dem kleinen Jungen. Wirklichkeit und Traum scheinen sich zu vermischen. Wollte der Junge damals die Zeit anhalten, um seine eigenes Ende aufzuhalten? Wie können die Bewohner von Windholm es schaffen, sich dem eigenen Verlust und Schmerz zu stellen? Zugleich wird offenkundig, dass Micha und Jana ebenfalls ein Kapitel aus ihrer ganz eigenen, persönlichen Vergangenheit aufzuarbeiten haben.

Mit einem gelungenen Auflösung, die sich einer absoluten Eindeutigkeit elegant verweigert, endet WIR SIND DIE FLUT. Und die Zukunft kann beginnen. Mit diesem stimmigen Abschlussfilm hat Sebastian Hilger - wie es die Berlinale-Reihe ja auch fordert - in der Tat neue Perspektiven im deutschen Kino eröffnet. Wir sind gespannt auf Weiteres!

Das Festivalblog-Interview mit dem Regisseur Sebastian Hilger ist hier nachzulesen.

Tiziana Zugaro,   19.02.16 20:03

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