Es trifft mich unerwartet und nicht dort, wo ich es erwartet habe. Zur Mittagszeit sehe ich in der Sektion Panorama mein bisheriges Highlight der Berlinale.
Die Kamera verharrt auf dem Gesicht eines alten Mannes. Er scheint mit offenen Augen zu schlafen. Das Bild ist hochauflösend. Man beginnt in dem Gesicht des Mannes zu lesen wie in einer Naturlandschaft. Man sieht jede Falte, jedes Barthaar. Nach einigen Minuten bemerkt man einen kleinen Tropfen in der Augenpartie, dann bricht ein kleines Rinnsal sich seinem Weg.
Das Hauptmotiv des Films: Ein Mönch wandelt im roten Gewand durch Marseille. Mit unfassbarer Körperbeherrschung verlangsamt er jede seiner Bewegungen zum Tempo einer Schnecke in Zeitlupe. Er schwebt über öffentliche Plätze, geht Treppen rauf, geht Treppen runter, taucht plötzlich am rechten Bildrand auf und verschwindet nach langen Minuten wieder am linken Bildrand. Er bewegt sich mitten in von der Großstadt getriebenen Menschenmengen. Nur sehr selten bleiben Passanten stehen. Selbst als er an einem Straßencafé vorbeizieht wundern sich die Gäste nicht. Nur Kinder erkennen das Einzigartige an der Situation und werfen einen Blick zurück, bevor sie von ihren Eltern weitergezerrt werden.
Selten wurde das Aufeinandertreffen von moderner Ruhelosigkeit und fernöstlicher Vertiefung so eindrucksvoll in Szene gesetzt. JOURNEY TO THE WEST ist ein Film, der einem den Atem raubt, ohne dass etwas passiert.