AL MIDAN (The Square) von Jehane Noujaim

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Wie geht Revolution? Jedenfalls nicht linear voran und planbar, stattdessen, wirr und unübersichtlich, mal euphorisch dann deprimiert, blutig und heilend und mit Tränen des Glücks wie der Trauer. Vor allem braucht es lang, bis sich wirklich, dauerhaft und für die meisten spürbar etwas ändert, wenn das Unterste aus Staat, Kultur und Gewohntem nach oben gekehrt wird. Das erzählt dieser Film. Er ist kein analytisches „erst passiert das und dann das…“ der ägyptischen Revolution. Und das macht ihn einzigartig, bewegend, großartig und wahrhaftig.

AL MIDAN (The Square) lief schon auf Filmfestivals, gewann den Sundance Publikumspreis und ist für den Oscar nominiert. Es war allerdings jedes mal ein anderer Film, den das Publikum zu sehen bekam. Weil die ägyptische Revolution noch immer lebt und Dinge geschehen. Diese Dokumentation (90 Minuten, basierend auf derzeit 1600 Stunden Material!) will nicht rückblickend berichten oder einen historischen Moment zeigen, sondern gegenwärtig sein. Entlang von einigen Revolutionären legt der Film den hochkomplexen, pulsierenden, unüberschaubaren Prozess offen, macht spürbar und erfahrbar, was ein gemeinsamer Wunsch, ein Ideal über alle religiösen und sozialen Grenzen hinweg bedeutet, wie der Wunsch nach Freiheit sich anfühlt und aussieht. Das packt auch Zuschauer, die gar nichts über Ägypten und die Bedingungen dort wissen. Weshalb die engagierten Filmemacher/Revolutionäre den Film auch vor kurzem auf dem Majdan in der Ukraine zeigten - und den Kampfeswillen der dort Versammelten stärkten. Eben weil der Film viel mehr als den ägyptischen Sonderfall erzählt.

Er ist dennoch alles andere als dumpfer Agitprop oder Revolutionsfolklore gut genährter Bürgerkinder. Die Protagonisten, darunter der unfassbar rhetorisch begabte, kluge Ahmed, der immer wieder mit seiner Organisation hadernde, aber für seinen Glauben immer wieder gefolterte und verhaftete Muslimbruder Magdi und der bekannte Schauspieler und im Exil aufgewachsene Khalid Abdalla (bekannt aus der Drachenläufer, United 93 etc.) ergehen sich nicht in Phrasen und unverrückbare Positionen, sondern so wie die Revolution selbst, ist auch ihre Haltung ein Prozess. Mit einem klaren Ziel: Freiheit, Zivilgesellschaft und demokratische Reformen. Und nicht weniger.

Die Regisseurin und ihre beiden Produzentinnen haben ein Gefühl eingefangen, eine Hoffnung auf ein ganz anderes Leben. Eine Hoffnung, die auch durch Blut, Verhaftungen oder den derzeitigen Rollback zu einer Militärdiktatur nicht mehr kaputt zu kriegen ist - das jedenfalls die Hoffnung aller am Film Beteiligter.

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Was diese Männer sagen ist klüger, weitblickender und treffender als alles, was da an Leitartikeln geschrieben wurde in den vergangen drei Jahren. Und was sie taten, war mutiger, als man in einem freiheitssatten Land wie Deutschland auch nur ahnen kann.

Für den gesamten arabischen Frühling und die Revolution in Ägypten gilt, dass sie über Bilder geführt wird. Den Lügen des jeweiligen Regimes (Mubarak, Mursi, Militär) durch Youtube, Twitter, Facebook die Lügerei schwer zu machen, einen Gegenöffentlichkeit zum Staatsfernsehen zu schaffen und Beweise für Verbrechen zu sammeln. Weil ein Bild ein Funke sein kann: Wie die junge Frau mit blauen BH, die verprügelt wurde, wie der Leichnam eines Demonstranten, der von Soldaten in den Müll geschliffen wird usw. Bilder des tatsächlichen Geschehens, von Verhaftungen und Schüssen und Wunden und Toten sind auch Teil des Films, zuvor aber als Clips für die große gute Sache der Revolution schon verwendet worden.

Dieser großartige Film soll bitte alles an Preisen und Öffentlichkeit gewinnen, was es zu gewinnen gibt. Nicht nur weil er sehr gut gemacht ist, dramaturgisch und filmisch, sondern weil das, wofür er steht, gut ist. Vielleicht kann er helfen den medialen Blackout in Ägypten (derzeit wieder Zensur und unverhohlene Drohungen gegen viele Al Midan Aktivisten) und die durch Komplexität erzeugte Müdigkeit im Westen zu beenden. Hier wurde und wird Weltgeschichte geschrieben, auf einem Platz mitten in Kairo, von hunderttausend Namenlosen und den 6, die wir im Film kennenlernen.

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Titel

Orignaltitel

Al midan

Englischer Titel

The Square

Credits

Regisseur

Jehane Noujaim

Land

Flagge ÄgyptenÄgypten

Flagge Vereinigte StaatenVereinigte Staaten

Jahr

2013

Dauer

104 min.

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