Ai no corrida - Im Reich der Sinne von Nagisa Oshima

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Verschmelzungsprozess scheiternd

In Japan gibt es bekanntlich einen von christlicher Körperfeindlichkeit weniger lädierten Umgang mit Sexualität: ganz offen lesen Büromenschen Porno-Mangas in der U-Bahn, es gibt so genannte Love-Hotels für‘s Wochenende, in Bars ist der Übergang von Burlesquetanz und Prostitution fließend, japanische Fesseltechniken sind berühmt und das Versenden von gebrauchten Frauenschlüpfern soll ein einträgliches Geschäft sein. Was aber nicht bedeutet, dass Japan eine promiskuitive oder freizügige Gesellschaft wäre - im Gegenteil: lediglich der Umgang damit ist weniger, nun ja, verkrampft.

Einen Überblick über dieses Genre kann man beim DVD Label Rapid Eye bekommen, das in den vergangen Jahren allerlei gesellschaftspolitische Softporno-Kunstfilme aus Japan herausbrachte. Die Retrospektive zeigt nun gewissermaßen die Mutter all dieser (mehr oder minder guten) Streifen: den „Skandalfilm“ Im Reich der Sinne von von 1976.

Zum Skandal deshalb und nur in Deutschland geworden, weil die Kopie damals von einem Staatsanwalt konfisziert wurde und Ulrich Gregor als Verantwortlichem des Forum Programms der Prozess gemacht werden sollte. Ein einmaliger Schritt von Zensur während des Festivals. Am Ende siegte zum Glück die Kunst; genau wie im Wettbewerbsfilm Howl, bei dem es ebenfalls darum geht, ob die Darstellung bzw. Beschreibung von sexuellen Praktiken Kunst sind oder Pornographie - eine offenbar zu keiner Zeit leicht zu beantwortende Frage.

Im Reich der Sinne ist jedenfalls kein Porno, obwohl erigierte Penisse, Oralsex und viele übliche Kopulationstechniken explizit vorgeführt werden und es nur in geschätzten zehn Szenen nicht zum Vollzug kommt. Sexuelle Obsession, die Eskalation der Liebestechniken bis zum Strangulieren - dazu trifft der (männliche) Mythos von der immer willigen Frau auf den (weiblichen) Mythos des selbstlos alle Wünsche erfüllenden, dauerbereiten Mannes.

Doch geht es vielmehr um die radikale Zweisamkeit eines Liebespaares und deren Versuch durch Dauersex ein Art physisch-geistige Verschmelzung zu bewerkstelligen und sich von der Umgebung vollkommen zu lösen. Kichi und Sada verlieren sich immer mehr in ihren Körpern und Gelüsten und Selbstversuchen, geben das Essen irgendwann dran, verlassen das Zimmer kaum noch, scheren sich bald weder um ihren Ruf noch ihr Verhalten in der Öffentlichkeit, durchbrechen alle gesellschaftlichen Normen und enden schließlich wie Esmeralda und Quasimodo - wobei Kichi allerdings nicht nur sein Leben, sondern auch sein bestes Stück verliert.

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Der zeitliche Kontext der 30er Jahre taucht kurz auf, wenn Soldaten durch die Straßen marschieren - dazu indirekt durch die Marschmusik, die immer wieder zu scheinbar unpassenden Momenten eingebaut ist. Die japanische Gesellschaft bereitet sich auf den kollektiven Wahn vor, die Unterwerfung der Massen unter die Fahne, die Auflösung des Individuums in Uniform durch den Krieg. Dazu liefern die beiden Liebenden den radikalen Gegenentwurf.

Ulrich Gregor erläuterte zur Einführung nochmals die Hintergründe und Folgen des damaligen Geschehens, steuerte noch einige Anekdoten bei und erntete beim Publikum, das seltsam gespannt in den Kinosesseln saß, befreiende Lacher. Denn noch immer ist trotz eines Revivals von Art-Core Filmen wie Romance X oder Baise Moi die gemeinschaftliche Betrachtung expliziter Sexszenen in einem Kino das nicht "StudioX" oder "Wetland" heißt für die meisten offenbar unangenehm, zumindest ungewohnt. So mancher rutschte während der Vorführung im Sessel hin und her, niemand verließ den Saal, es wurde nicht gegessen und getrunken. Mein Sitznachbar bewegte sich den gesamten Film über gar nicht, dass ich schon das Schlimmste annahm.

Der Film lief zu später Stunde heute nochmals in 3sat - mit schrecklicher deutscher Synchronisation und nachvertonten Schmatzlauten und Stöhnen. Schon da meint man einen anderen Film zu sehen. Er verliert aber darüber hinaus so allein dem Sofa sitzend genau die Spannung, die im Kino als öffentlicher, gemeinschaftlicher Ort und der Darstellung intimster Gespräche, Akte und Obsessionen eines Liebespaares erzeugt wird.

Kommentare ( 1 )

ja das ist sehr spannend wie kulturen sind.
ich wusste das nicht das sie porn mangas lesen ich habe davon gehört aber nie realiesiert die bilder sind zwar ein bisschen naja

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