La belle visite von Jean François Caissy

Das lange Warten


Irgendwo in der Nähe von Québec. Ein umgebautes Motel, eingeklemmt zwischen Schnellstraße und Meer, dient als Altersheim. Die Bewohner haben vor allem eins: viel Zeit. Kleine alltägliche Verrichtungen wie der Gang zum Frühstückstisch oder der Besuch bei der Diätberaterin werden von den alten Menschen ausgiebig zelebriert. Irgendwie muss ja diese schier endlose Spanne von freier Zeit gefüllt werden. Im Sommer ist es schöner, da kann man sich wenigstens auf dem schmalen Streifen Natur, das einen vom Meer trennt, vom Wind durchpusten lassen. Im Winter dominiert das Klaustrophobische in den bemüht gemütlich gestalteten Zimmern und in den kahlen, funktionalen Gängen des Heims.

Der Fotograf und Dokumentarfilmer Jean-François Caissy schaut in LA BELLE VISITE den Menschen in diesem Altersheim äußerst geduldig dabei zu, wie sie ihre Zeit füllen. Er hat sich ausgiebig Zeit dafür genommen– ein ganzes Jahr lang hat er die Bewohnerinnen und Bewohner begleitet. Dabei sind eindrückliche Bilder entstanden: Wie die alten Frauen in ihrem rauen québécois mit der Friseuse scherzen; das Bedürfnis, sich schön zu machen und zu kokettieren, hat sämtliche Runzeln überdauert. Gleichzeitig ist von der Zimmerdeko bis zum regelmäßigen gemeinsamen Gebet der Katholizismus allgegenwärtig. Und die leise Ungeduld: Kurz bevor sich die Schiebtür zum Speisesaal öffnet, sitzen die Damen und Herren in ihrem besten Sonntagsstaat stumm und konzentriert wie Patienten im Wartezimmer im Vorraum. Kaum ist der Weg zu den Tischen frei, kommt Bewegung in das kleine Grüppchen, es beginnt ein Schlurfen und Hasten, soweit es Krücken und Gehapparate zulassen. All diese Menschen, das wird in den Gesprächen untereinander und in Telefonaten mit den Familien deutlich, tun sich nicht gerade leicht darin, das relative Nichtstun in diesem letzten Lebensabschnitt auszuhalten. Sie beschäftigen sich, so gut es eben geht, es könnte ja auch viel schlimmer sein, aber man hat immer das Gefühl, dass diese alten Menschen mehr oder weniger großzügig ein Spiel mitspielen, das andere sich für sie ausgedacht haben. Was die alten Menschen nicht tun, zeigt Caissy über andere Bilder: Ein kleiner Hund rast fast wie in Auflehnung gegen die lähmende Langsamkeit im Haus ungestüm den Korridor entlang und stößt am Ende die Tür auf, indem er sich einfach dagegen wirft. Das Gegenbild dazu ist eine einzige lange Kameraeinstellung, mit der Caissy einem der Bewohner bei seinem Abendspaziergang folgt: Einmal in Stock und Hut langsam um das gesamte Motel herum, um dann wieder ins Zimmer zurück zu kehren.

Lange ruht die Kamera immer wieder auf alten Gesichtern, alten Körpern, nimmt sich die selbe Zeit, die diese Menschen brauchen, um ganz einfache Dinge zu tun, und vermittelt dabei so etwas wie ein Gefühl dafür, wie es sein muss, in einem solchen Körper zu leben.

Je länger der Film dauert, desto mehr wundert man sich allerdings über die absolute Verträglichkeit und Niedlichkeit dieser alten Menschen. Nie ein böses Wort, nie wird über abwesende Dritte gelästert, außer ein paar unterschwelligen Bockigkeiten keine störrische Verweigerung der sanften Zuwendung des Personals. Alte Menschen sind – wie alle Altersgruppen – mitnichten immer kleine Engelchen. Hier werden sie aber als solche gezeigt. Entweder, so fragt man sich, sind die alten Menschen in Quebec einfach anders. Oder der Filmemacher hat – aus welchen Gründen auch immer – diese andere Seite seiner Porträtierten einfach nicht gezeigt. Vielleicht aus dem Bedürfnis heraus, mit den alten Menschen respektvoll umzugehen, scheint der Film ein paar blinde Flecken zu haben. Das ist schade, denn wirklich respektvoll wäre es gewesen, diese Menschen in all ihren Facetten zu zeigen.

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Titel

Orignaltitel

La belle visite

Credits

Regisseur

Jean-François Caissy

Land

Flagge KanadaKanada

Jahr

2009

Dauer

80 min.

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