Retrospektive: Nicht ohne meine Zigarettenspitze

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Kesser Augenaufschlag, frecher Bubikopf, und ganz selbstverständlich in der Öffentlichkeit rauchen: In den 10er und 20er Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts trat mit einem Paukenschlag ein neuer Frauentypus in Erscheinung, der zugleich Glamour und Emanzipation versprach. Unabhängig und lebenslustig präsentierte sich die neue Frau in ihrer natürlichen Umgebung – der Großstadt. Larger than life konnte man diese City Girls auf der Kinoleinwand bewundern, wo sie als Projektionsfläche für die Sehnsüchte all jener Kinobesucherinnen dienten, die sich nicht unbedingt einen so flamboyanten Lebensstil wie ihre Celluloid-Idole leisten konnten. Auf der diesjährigen Berlinale widmet sich die Retrospektive dem Thema „City Girls“ mit einer Reihe von Stummfilmschätzen, in denen dieser neue Frauentypus wieder zum Leben erweckt wird.

Das Phänomen der „neuen Frau“ reflektiert den gesellschaftlichen Wandel jener Zeit, betont Retrospektive-Leiter Rainer Rother. Durch die Ausbreitung der Großstädte arbeiteten Frauen vermehrt in Fabriken, als Näherinnen oder Friseurinnen, und verfügten dadurch über eigenes Geld – weshalb sie sich auch nach eigenem Gusto amüsieren konnten. „Die neue Frau ist ohne Großstadt undenkbar“, so Rother. Dieses Phänomen fand in mehreren Ländern parallel statt. Die Retrospektive zeigt denn auch Filme aus den USA und Russland, aus Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Schweden. All diesen Filmen ist gemein, dass sie sich zwar an der Freizügigkeit ihrer Protagonistinnen erfreuen – ein wahres Happy End besteht dann aber doch aus einer glücklichen Heirat und dem Rückzug ins traute Heim.

In „Fleur de Paris“, einem französischen Film aus dem Jahr 1916, sieht man gleich zu Beginn eine Gruppe Näherinnen lachend und scherzend um einen großen Arbeitstisch versammelt. Der Kabarett-Star Mistinguett spielt in einer Doppelrolle eine einfache Näherin mit Flausen im Kopf und eine berühmte Tänzerin, die natürlich im Laufe des Films miteinander verwechselt werden. Die Näherin macht Faxen, tanzt auf dem Tisch und kann am Ende des Tages froh sein, dass sie von der gestrengen Chefin dennoch ihre Lohntüte erhält.
Geld ist auch ein wichtiges Attribut der „neuen Frau“ in Ernst Lubitsch’ „Lady Windermere’s Fan“ aus dem Jahr 1925. Irene Rich spielt darin eine Frau mit Vergangenheit, die sich vom Ehemann ihrer heimlichen Tochter aushalten lässt, damit sie besagte Lady Windermere weiterhin in dem Glauben lässt, ihre Mutter sei bei der Geburt gestorben. Man kann sich gar nicht satt sehen an der aufwändigen Garderobe der Dame – glänzende Stoffe, Federn und Perlen im Überschwang. Und natürlich raucht die Femme Fatale ausschließlich mit Hilfe einer Zigarettenspitze.

Ein etwas handfesterer Typ der neuen Frau findet sich in „Something New“, einem amerikanischen Film aus dem Jahr 1919: Hier ist die Heldin eine Schriftstellerin, die nach Inspiration sucht und schneller als gedacht mitten im turbulentesten Wild West Abenteuer landet. Nell Shipman schrieb für den Film das Drehbuch, schnitt den Film und spielte auch gleich die Hauptrolle selbst. Das unkomplizierte Mädchen von Nebenan besticht durch ihre sarkastischen Kommentare, ihren gesunden Menschenverstand und ihre zupackende Art – außerdem kann sie Auto fahren wie der Deibel. Eine wunderbare Entsprechung findet dieses Frauenbild der Moderne in dem kleinen Auto, das als fortschrittliche Weiterentwicklung des Pferdes in dem Film eine zentrale – und manchmal allzu raumgreifende – Rolle einnimmt. Drollig ist es aber alle Mal anzusehen, wie sich das kleine Vehikel hüpfend und schlitternd einen Pfad durch die unwegsame Prärie bahnt – mit Miss Shipman persönlich am Steuer.

Eine einfache Friseurin dagegen ist die Heldin der schwedisch-britischen Koproduktion „A Cottage on Dartmoor“ aus dem Jahr 1929: sehr eindrücklich wird hier der Alltag in einem Friseursalon nachgezeichnet, inklusive Nassrasur und Maniküre. In einer Szene verbringt die Heldin gemeinsam mit ihrem Freund einen Abend im Kino – und die gruselige Krimigeschichte, die sie da so gebannt auf der Leinwand verfolgt, wird sich alsbald im wirklichen Leben wiederholen. Das City Girl in diesem Film kann frei wählen zwischen zwei Bewunderern; und weil sie sich für die materielle Sicherheit entscheidet, nimmt die Tragödie ihren Lauf.

Der wahre Star unter all den frechen neuen Damen ist mit Sicherheit die Amerikanerin Louise Brooks, die mit ihrem schwarzen Bubikopf, der knabenhaften Figur und den großen dunklen Augen zum Prototyp des Charleston-Flappers wurde. In „Love’em and Leave’em“ aus dem Jahr 1926 spielt Brooks eine verzogene jüngere Schwester, die sich die Nächte auf Tanzwettbewerben um die Ohren schlägt, morgens den Mitbewohnern den Platz im Badezimmer vor der Nase wegschnappt und nicht davor zurückschreckt der braven älteren Schwester erst den neuen Mantel und dann den Verlobten abzuluchsen. Auch wenn am Schluss die Moral der älteren Schwester siegt – in Erinnerung bleibt doch die köstlich durchtriebene Louise Brooks, wie sie flugs mal den Finger ins Goldfischglas tunkt, um einen theatralischen Heulanfall mit den nötigen Tränen zu untermalen.


Im Bertz + Fischer Verlag ist zum Thema das Buch „City Girls. Frauenbilder im Stummfilm“ erschienen. Hrsg. Von Gabriele Jatho und Rainer Rother. 176 Seiten, 19.90 Euro.

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