Scrabble für Fortgeschrittene
Britischer Humor trifft auf Autistin. Das klingt nach absurden und komischen Momenten, vielleicht sogar nach Klamauk. Gleichzeitig hat "Snow Cake", der Eröffnungsfilm der Berlinale, ein ernstes Thema – es geht um Schuld und Erlösung, um das Wahren und Einreißen zwischenmenschlicher Grenzen. Doch der Film des walisischen Regisseurs Marc Evans hält gekonnt die Balance. Abgesehen von einigen Längen und einigen allzu gewollt wirkenden Wendungen des Plots, ist "Snow Cake" ein schöner Eröffnungsfilm für die Berlinale. Einen gehörigen Anteil daran haben die beiden Hauptdarsteller: Sigourney Weaver (als Autistin fast so gut wie Dustin Hoffman) und Alan Rickman (jaja, der fiese Snape aus Harry Potter diesmal sehr traurig) sind ein großartiges Duo.
Der Brite Alex (Alan Rickman) landet mit dem Flugzeug im kanadischen Ontario – er ist unterwegs zur Mutter seines verstorbenen Sohnes. Der erste Schnitt, der in Erinnerung bleibt: Alex’ tieftrauriges Gesicht ist ins gleißende Sonnenlicht getaucht und eine Ahnung von Entspannung legt sich über seine Züge, im nächsten Augenblick steht er - und mit ihm die Zuschauer – am Rande einer lärmenden, staubigen Schnellstraße. Eine traumartige, entrückte Welt und die harte Realität liegen in „Snow Cake“ immer nur einen Wimpernschlag außeinander.
Da Alex Brite ist und die Entfernungen in der neuen Welt offensichtlich nicht so recht einzuschätzen weiß, macht er sich im Auto auf den Weg. In einem Diner setzt sich unaufgefordert der Teenager Vivienne - mit großen kajalumrundeten Kugelaugen � la Christina Ricci: Emily Hampshire - an seinen Tisch und möchte gerne mitgenommen werden. Vivienne will Schriftstellerin werden und ist immer auf der Suche nach Menschen, die einsam und traurig aussehen. Die, so sagt sie, haben die besten Geschichten zu bieten. Alex entzieht sich zunächst – aber dann kommt sein Wagen stolpernd neben der autostoppenden Vivienne zum Stehen (Vivienne: „Change of heart?“ Alex: „No, change of gear. It’s an automatic“), und sie steigt ein.
Überraschend und schockierend schnell passiert der Unfall, bei dem Vivienne ums Leben kommt. Alex, von Schuldgefühlen geplagt, sucht ihre Mutter auf. So trifft er auf die autistische Linda (Sigourney Weaver) – die den Schmerz über den Verlust ihrer Tochter eben nicht so äußert, wie es die Welt erwarten würde, die einen ausgeprägten Putzfimmel hat und ihren Hund mit Banane füttert. Alex’ soll bleiben, findet Linda. Zumindest bis Dienstag, weil dann der Müll vor die Tür gebracht werden muss.
Wie nun diese beiden Außenseiter aufeinander treffen, wie Alex’ eigene Vergangenheit in ihm aufbricht, und wie der Mann, der alles vorsichtig bis gar nicht formuliert, und die Frau, die immer sagt, was sie denkt, miteinander auskommen, wie sie in einer besonderen Art von Scrabble miteinander konkurrieren, und sich sogar für ein paar Tage lang so etwas wie Freunde sein können: das hätte ohne weiteres für einen schönen Film gereicht. Dass Carrie-Anne Moss als eigenwillige Kleinstadt-Femme-Fatale Schwung in Alex’ Leben bringt, ist zwar nett anzusehen, aber nicht wirklich nötig. Und so muss Alex’ zum Schluss seine Freundschafts- und Liebesbeweise an zwei Frauen verteilen: Der einen sagt er die Wahrheit, der anderen schenkt er einen Kuchen.
Und der Müll wird zum Schluss auch noch entsorgt.